„I’m sure she’s the new Annie Ernaux“ sagt Claire Simon über eine ihrer Protagonistinnen in ihrem Dokumentarfilm „Writing Life: Annie Ernaux Through The Eyes of High School Students“, dem Eröffnungsfilm der 68. Ausgabe von DOK Leipzig. Die französische Filmemacherin beweist uns mit ihrem neuesten Film vor allem eins: ihr Vertrauen, ihre Wertschätzung, ihre Neugier jungen Menschen gegenüber und auch, wie wertvoll deren Gedanken, Leben und Persönlichkeiten sind. Dies erreicht sie mit einem simplen Mittel – sie lässt sie zu Wort kommen. 
Claire Simon hat einen Film über die Texte der französischen Autorin Annie Ernaux gemacht, indem sie mit ihrer Kamera Jugendliche bei sowohl privaten, vor allem aber Unterrichtsgesprächen begleitet. In Klassenzimmern und auf Schulhöfen diskutieren Schüler*innen über die Bücher Ernauxs, die für ihre feministischen, klassenbewussten und zeitlosen Werke über Familie und das Aufwachsen bekannt ist.
Dabei schafft es Simon, den Schüler*innen auf Augenhöhe zu begegnen. Man hat das Gefühl, mit ihnen im Unterricht zu sitzen, und kommt ihnen dabei unfassbar nahe. Es ist eine sehr ähnliche Nähe wie die, die man beim Lesen von Annie Ernaux empfindet. In ihren Büchern schafft sie dies durch ihr sogenanntes „plattes“ Schreiben, durch unbeschönigte Tatsachen und schamlose Schilderungen von Sexualität, Besessenheit oder Familie. Claire Simon setzt diese unvergleichbare Ehrlichkeit und Intimität in ihrem Dokumentarfilm durch die physische Nähe der Kamera zu den Protagonist*innen um.

Die Vorstellung, eine Kamera so nah am Gesicht zu haben und davon ungehindert sich so verletzlich und gleichzeitig stark zu zeigen wie diese Jugendlichen, scheint unmöglich. Doch Simon überwindet diese Hürde für ihre Protagonist*innen durch ein ehrliches Interesse ihnen gegenüber. Sie als Kamerafrau wirkt fast wie eine gleichaltrige Freundin, der die jungen Heranwachsenden sich anvertrauen können. Sie sprechen über die Beziehung zu ihren Eltern und wie unangenehm es diesen ist, über Themen wie Verhütung oder Familiengeheimnisse zu sprechen. Claire Simon und Annie Ernauxs Texte werden zum Sprachrohr für die Jugendlichen.
Es hätte kein besserer Film über Annie Ernaux gedreht werden können, auch wenn sie nur in Form ihrer Bücher zu Wort kommt. Der Film ist sowohl für Menschen, die ihre Bücher kennen, als auch für die, die noch nie von ihr gehört haben, fesselnd. Mehrmals werden im Rahmen des Unterrichts Passagen aus Ernauxs Leben vorgelesen, was den Film für ein breites Publikum verständlich macht. Die ehrlichen Gespräche über Ernauxs Texte sind genauso spannend wie die Werke selbst. Die Schüler*innen lesen Textpassagen vor, in denen sie sich besonders verstanden fühlen, die ihnen zu explizit oder mal völlig unnachvollziehbar sind. Dabei ist es extrem spannend, in die Gesichter der Lesenden schauen zu können. Sie kichern unangenehm berührt, werden plötzlich ganz ernst, erröten oder verlesen sich.
Ernauxs Bücher sind so erfolgreich, da Leser*innen sich in ihnen gesehen und repräsentiert fühlen. Sie finden Worte für Gefühle und Umstände, die für uns schwer erklärbar sind. Das spiegelt der Film gut wider. Die Bücher und die Unterrichtsgespräche ermöglichen den Schüler*innen, hemmungslos über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen. Die Basis für die Gespräche wird geschaffen durch Ernauxs Brechen mit allen Tabus. Dadurch entsteht ein Raum, in dem sich Jugendliche so verletzlich und stark zeigen, wie es wenige von uns können.
Elisa
