Wie ist es, unsichtbar zu sein? Das zeigt uns der Film “The Other One”, der ein Problem behandelt, das fast so unsichtbar ist, wie die Protagonistin Johanna. Sie ist achtzehn Jahre alt, schließt gerade die Schule ab und träumt von einem Psychologiestudium – und sie hat eine autistische kleine Schwester. Deshalb muss sie sich nicht nur mit den bekannten Problemen herumschlagen – Liebeskummer, Schulstress, Gedanken an die Zukunft – sondern trägt noch ein weiteres Päckchen. Genauso wie viele andere Jugendliche in Deutschland oder auf der ganzen Welt muss Johanna immer für ihre Familie da sein: Sie passt auf ihre Schwester Roza auf, wenn die Eltern arbeiten, holt sie von der Schule ab und spielt mit ihr. Dazu kommen zahlreiche Gespräche mit der Familie, in denen Ratschläge von Rozas Psychologin ausdiskutiert werden. Denn für Roza muss alles immer genau nach Plan laufen, und selbst dann verfällt sie regelmäßig in hysterische Wutausbrüche, mit denen die Familie nicht immer mühelos umgehen kann.
Inmitten dieser immensen familiären Belastungen schwimmt Johanna, mal hier, mal da, ihren eigenen Wünschen folgend, dann von der Familie zurückgehalten. Denn natürlich ist es unfassbar schwer, sich auf einen Schulabschluss und Uni-Aufnahmeprüfungen vorzubereiten, wenn man von seinen Eltern ständig kommuniziert bekommt, wie abhängig die Familie doch von den eigenen Entscheidungen ist. Sollte es nicht eigentlich anders sein – das Kind wird vom Elternhaus entlastet? Dazu kommt, dass Johanna nicht nur maßgeblich in die Pflege ihrer Schwester einbezogen wird, sondern selbst kaum Aufmerksamkeit oder Zeit von den Eltern zu bekommen scheint. Fast jede Konversation mit diesen handelt von Roza. An einer Stelle muss Johanna ihrer Mutter sagen, dass sie kein Elternteil, sondern “nur” Rozas Schwester ist.
Im Film wird deutlich, wie sehr Johanna mit ihrer Situation zu kämpfen hat. Sie versucht, bei ihren Freundinnen einen Rückzugsort zu finden, aber Gespräche über die Zukunft zeigen ihr immer wieder, was bei ihr anders läuft als bei so vielen. Während ihre Freundinnen scherzen, dass sie am liebsten zu Hause bleiben und “Mama’s Girls” werden wollen, lächelt Johanna traurig und schweigt – sie will manchmal einfach nur weg von zu Hause. Johannas Freundin Gabina ist, zumindest zu Beginn des Films, ihre größte Unterstützung. Aber dann trennt sich Gabina von Johanna: Sie hat sich mehr Aufmerksamkeit gewünscht und ist enttäuscht, weil Johanna so viel Zeit zu Hause mit ihrer Schwester verbringt.
Johanna erzählt, dass sie kaum schlafen kann – und das trotz Schlaftabletten. Sie habe zu viel Angst um ihre Schwester und immer wieder “racing thoughts”, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen.
Immer wieder hat man während des Films das Gefühl, dass Johanna gar nicht richtig zuhört und ihre Umgebung ausblendet: statt den Gesprächen und Geräuschen in ihrer Umgebung hört man dann ein pulsierendes Hintergrundrauschen, das mal lauter und mal leiser wird und an einen Tinnitus erinnert. Manchmal nimmt sie Rozas Ausbrüche auf und hört sie dann zum Sport machen, als Motivation, sagt sie.
Irgendwann erzählt Johanna von einer Stimme, die in ihrem Kopf aufgetaucht ist – vielleicht sei es besser, wenn sie einfach verschwinden würde.
Obwohl man Johannas Situation im Film gut nachvollziehen kann und mit ihr fühlt, habe ich vor allem eins mitgenommen: ganz viel Wut. Zum einen auf Menschen wie Johannas Eltern und auf die Gesellschaft, die Geschichten wie die von Johanna einfach nicht sehen, zum anderen aber auch auf den Film an sich. Denn leider wirkt vieles sehr unauthentisch. Nicht nur scheinen die Konversationen und Szenen oft gestellt, auch die Gesamtsituation wirkt dadurch besonders überspitzt: außer bei ihren Freundinnen sehen wir Johanna immer nur, wenn es um Roza geht – und selbst dann bekommen wir oft nur die dramatischeren Situationen gezeigt, in denen Johanna von den Freundinnen getröstet wird oder sich isoliert fühlt. Ansonsten ist Roza immer im Hintergrund zu sehen und zu hören: sie räumt auf, spielt mit einem Ball oder schreit hysterisch.
Wüsste ich nicht aus eigener Erfahrung, wie es sich anfühlen kann, zu Hause unterzugehen, würde ich wahrscheinlich recht gleichgültig aus dem Film gehen: so schlimm, wie man es im Film sieht, kann es doch gar nicht sein. Sogar die Regisseurin, die im Übrigen auch eine neurodiverse Schwester hat, widerspricht im Nachgespräch nicht der Aussage, ihr Film erinnere mit seinen stilistischen Mitteln und seinem Aufbau an einen Coming-of-Age-Film, was mich nachdenklich macht.
Es ist eine Sache, den Geschichten von Menschen wie Johanna im Spielfilm mehr Aufmerksamkeit zu widmen und damit ihre Repräsentation in der Gesellschaft zu stützen. Aber eine andere Sache ist es meiner Meinung nach, einen Dokumentarfilm so überspitzt und fast unrealistisch zu gestalten, dass ihn niemand mehr ernst nimmt. Natürlich gibt es in Johannas Leben auch “positive” Momente: Als ihr Vater sie auf der Schulabschluss-Party fragt, ob es wirklich nichts Schönes in ihrem Leben gibt, antwortet sie: “Doch, mich!”. Und als sie am Ende des Films endlich in einem vollgeladenen Auto in Richtung Uni fährt, spielt ein fröhlicher Song und Johanna lächelt – jetzt ist alles wieder gut.
Aber Szenen wie diese machen mir Angst, dass die Menschen, die den Film wirklich sehen sollten – Menschen wie Johannas Eltern – die eigentliche Botschaft gar nicht verstehen. Denn Kinder wie Johanna, die zu Hause so viel mehr machen müssen, als nur Kind sein zu dürfen, werden in der Gesellschaft nicht gesehen. Und was nützt es, wenn sich immer nur Menschen angesprochen fühlen, die selbst betroffen sind? Auch ich denke, dass Jugendliche wie Johanna viel mehr Aufmerksamkeit verdienen – aber leider ist dieser Film für mich nicht mehr als eine bloße Erinnerung daran, dass überhaupt etwas schiefläuft.
Autorin: Nora
Beitragsbild: © DOK Leipzig 2024 / The Other One, Marie-Magdalena Kochová